Auktion: 496 / Evening Sale am 06.12.2019 in München Lot 150

 

150
Wilhelm Lehmbruck
Kleine Sinnende, 1910/11.
Gips, Reste einer ockerfarbenen Tönung, gelblic...
Schätzung:
€ 30.000
Ergebnis:
€ 70.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Kleine Sinnende. 1910/11.
Gips, Reste einer ockerfarbenen Tönung, gelblicher Lack und partiell Schellack (siehe Zustandsbericht).
Schubert 55 C a 1. Seitlich am Sockel mit dem Namenszug. Eines von ca. 12 Exemplaren dieser Ausführung (Guss 1920), die über die Galerie Tannenbaum in Mannheim und den Kunstsalon Ludwig Schames in Frankfurt am Main vertrieben wurden. Höhe: 53,3 cm (20,9 in).
Weitere Abbildungen und ein Video dieses Werkes finden Sie auf unserer Hompage.
• Die "Kleine Sinnende" gehört neben der "Knienden" und dem "Gestürzten" zu Lehmbrucks bekanntesten Bildwerken.
• Neben Bronzen, Terracotten oder auch Zementgüssen eine der Gips-gebundenen Güsse.
• Ruhe und Haltung in der Linienführung.
• Historisch interessante Provenienz
.

Wir danken Herrn Prof. Dr. Dietrich Schubert, Universität Heidelberg, Herrn Dr. Mario-Andreas von Lüttichau, Herrn Peter Bux, Leipzig, sowie Herrn Dr. Mathias Listl, Kunsthalle Mannheim, für die freundliche wissenschaftliche Beratung.
Mit einer Untersuchung und Einordnung des Gusses von Peter Bux, Restaurator VDR, Leipzig, vom 4. Oktober 2019.

PROVENIENZ: Herbert Tannenbaum, Mannheim/Amsterdam/New York.
Familie Tannenbaum/Newmann, New York (Familienbesitz bis 1987).
John C. Whitehead, New York (1987 von der Familie Tannenbaum/Newmann erworben, vermittelt durch Jakob Hermann Guttmann, New York, und Achim Moeller, New York).

AUSSTELLUNG: Große Kunstausstellung, Düsseldorf 1911, Kat.-Nr. 1768 (anderes Exemplar).
Möglicherweise: Kunstsalon Ludwig Schames, Wilhelm Lehmbruck. Hermann Lismann. Oskar Moll, März 1918, Nr. 2 (ohne Material, Exemplar der genannten Auflage?).
Möglicherweise: Kunstsalon Ludwig Schames, Karl Hofer. Wilhelm Lehmbruck, Nov. 1920, Nr. 60 (ohne Material, Exemplar der genannten Auflage?).
The Whitehead Collection, Late 19th and 20th Century French Masters, A Collection in Progress, Achim Moeller Fine Art, New York, April-Mai 1997, S. 146, Kat.-Nr. 87 (dieses Exemplar, mit Abb. S. 147).
Wilhelm Lehmbruck, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart 2018, Kat.-Nr. 7 (anderes Exemplar).

LITERATUR: August Hoff, Wilhelm Lehmbruck, Berlin 1933, S. 7 (mit Abb.; Bronzeversion).
August Hoff, Wilhelm Lehmbruck. Seine Sendung und sein Werk, Berlin 1936, S. 25 (mit Abb.; Bronzeversion).
Dietrich Schubert, Die Kunst Lehmbrucks, Dresden 1990, S. 167f., Abb. 122 (anderes Exemplar).
Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck: catalogue raisonné der Skulpturen; 1898 - 1919, Worms 2001, S. 216-217, Abb. 182-184 (Abb. anderes Exemplar)
From Daumier to Matisse. Selections from the John C. Whitehead Collection, hrsg. von Achim Moeller Fine Art, New York 2002, S. 28 (mit Abb.).



Die wunderbare Provenienz dieser Stuckgipsstatuette geht zurück bis auf deren ersten Besitzer: Herbert Tannenbaum! Der 1892 in Mannheim geborene Jurist, Filmtheoretiker, Kunsthändler und Sammler, pflegt als junger Kunstinteressierter Kontakt zur Kunsthalle Mannheim und deren Direktor Fritz Wichert, ist involviert in die Vorbereitungen der Kölner Werkbundausstellung 1914, bei der auch Lehmbruck ausstellt, und beginnt im selben Jahr ein zweites Studium der Kunstgeschichte in Berlin. Spätestens seit 1916 ist Tannenbaum nachweislich mit Wilhelm Lehmbruck, Hermann Esch (Architekt), Theodor Däubler (Schriftsteller und Kunstkritiker) und Willy F. Storck (1920-1927 Direktor der Kunsthalle Karlsruhe) bekannt, wie eine von ihm gefertigte Fotografie dokumentiert. Vermutlich pflegt Tannenbaum Kontakt mit dem Mannheimer Kunstsammler und Lehmbruck-Förderer Sally Falk und ist Zeuge der umfangreichen Retrospektive Lehmbrucks 1916 in der Kunsthalle Mannheim. 1920 eröffnet Tannenbaum dort seine Galerie "Das Kunsthaus" und über Storck entsteht der Kontakt zu Künstlern, die für Tannenbaum Auflagen und Mappenwerke bereitstellen. 1921 erwirbt er Zeichnungen aus dem Nachlass Lehmbrucks über den Berliner Kunsthändler J. B. Neumann (Hofmann/Präger 1994, S. 53-55).
Die "Kleine Sinnende" entsteht 1910/11 in Paris und wirkt auf den ersten Blick wie eine stark verkleinerte Variante der "Großen Stehenden" von 1910. Die augenfälligsten Unterschiede, abgesehen von der Größe, sind der stärker geneigte Kopf mit dem scheuen Blick nach unten und die vor der Brust verschränkten Arme. Im Frühjahr 1911 im Grand Palais anlässlich des 4. Salon der Société National des Beaux-Arts als "Jeune fille" erstmals der Öffentlichkeit in der klassischen Bildhauer-Variante Gips gezeigt, erfährt diese in weiteren Materialien wie Bronze, Terrakotta, Zement und schließlich in Stucco gegossene Figur in mehr als 20 Exemplaren große Beliebtheit und avanciert zu einer der erfolgreichsten Skulpturen des Bildhauers zu dessen Lebzeiten. Eine erste "Kleine Sinnende" in Bronze zeigt Lehmbruck im Museum Folkwang im April 1912, vermutlich ein erster Bronzeguss der in den Pariser Jahren von 1910 bis 1914 entstehenden Arbeiten. Die "Kleine Sinnende" in Terrakotta (gebrannter Ton) sieht das Publikum erstmals mit der XXV. Ausstellung der Berliner Secession im November 1912 und als Zementguss Jahre später, im April 1916, mit der III. Ausstellung der Freien Secession, ebenfalls in Berlin. Der Frankfurter Galerist Ludwig Schames zeigt im März 1918 in einem kleinen Werküberblick zu Lehmbruck auch eine "Kleine Sinnende", allerdings ohne Angabe des Materials; es kann sich hierbei um eine Variante aus gehärtetem Gips, vergleichbar mit der hier vorzustellenden Statuette handeln. Mit der Wahl unterschiedlicher Werkstoffe für die im Prinzip gleiche Gussform variiert und intensiviert Lehmbruck Feinheiten im Ergebnis. Die Zusammensetzung der künstlich entworfenen Werkstoffe nimmt erheblichen Einfluss auf die ästhetische Aussage. Ein massiv belassener, je nach den Anteilen mehr oder weniger grauer Zementguss hat nicht die Wärme einer Terrakotta und kann auch kaum das Grundsätzliche eines - wenn auch wie hier gelblich gefassten - Gipses verdrängen.
August Hoff, Kunsthistoriker und Begründer des Wilhelm Lehmbruck Museums in Duisburg, erkennt in seiner Monografie 1936 in dieser Skulptur das "verträumte wehmütige Sinnen, das Horchen und Schauen in sich hinein, all das ist in der plastischen Zuständlichkeit des ganzen Werkes, seinem strengen herben Wuchs, seiner Ruhe und Haltung und Linienführung gleichermaßen enthalten. Grüblerischer und schmerzlicher ist der seelische Ausdruck in der 'kleinen Sinnenden' [..]"
Dietrich Schubert, Kenner und Verfasser des Werkverzeichnisses zu Lehmbruck, registriert diese Statuette als eines von vermutlich 12 Exemplaren "einer Edition getönter Gipse, [..] das rechte Ohr nicht modelliert, vertrieben über Galerie Tannenbaum und Schames in den 20er Jahren" (Schubert 2001, S. 216). Ein weiteres Exemplar aus dieser Auflage befindet sich in der Galerie Werner.
Ludwig Schames zeigt Lehmbruck ab Ende 1914 mehrfach in seinem Frankfurter Kunstsalon, 1918 und 1920 auch jeweils eine "Sinnende" ohne Materialangaben. Nach seinem Tod 1922 führt sein Neffe Manfred Schames die Galerie bis zum Berufsverbot durch die Nationalsozialisten 1934 weiter; er emigriert nach Palästina. So weit bekannt, ist dies die einzige Auflage; wie es zu dieser Auflage kommt, die Ludwig Schames und im Nachgang auch Herbert Tannenbaum Lehmbruck oder dessen Witwe Anita vorschlagen, um möglicherweise die finanziellen Problem des Künstlers zu lindern, muss offen bleiben. Vermutlich haben sie sich die Edition aufgeteilt, um den Absatz zu beschleunigen. Tannenbaum ist offiziell ab 1920 in Mannheim als Kunsthändler tätig. Die Güsse der Auflage sind ursprünglich leicht ocker getönt und mit einem gelblichen Lack oder Wachs überzogen, nicht so scharfkantig gezeichnet wie etwa die Terrakotta im Museum Folkwang (die Provenienz führt zurück zu Schames) oder die Bronze in Halle (sie kommt von Cassirer aus Berlin).
Doch nochmals zurück zu Herbert Tannenbaum. Aufgrund nationalsozialistischer Repressalien verkauft Tannenbaum Ende 1936 seine Galerie an den befreundeten Dresdner Kunsthändler Rudolf Probst und emigriert 1937 nach Amsterdam. Mit der Hilfe seines Freundes Hermann Esch gelingt es ihm, den größten Teil seiner Lagerbestände nach Amsterdam zu transportieren; er betreibt dort wieder eine Galerie. Ab 1941 wird Tannenbaum erneut mit Berufsverbot belegt und seine Sammlung bleibt versiegelt. 1947 wandert Herbert Tannenbaum mit seiner Frau Juliana Maria Elisabeth Nosbisch († 1990) in die USA aus, im selben Jahr folgen auch seine Tochter Beate († 2012), die den Namen Beatrice Newman annimmt, mit ihrem Mann Thomas Gerhard Neumann. Seine Lagerbestände kann er vermutlich in die USA mitnehmen, mit Sicherheit die "Kleine Sinnende" von Lehmbruck, die ihren Platz auf dem heimischen Klavier fand. Tannenbaum gründet wieder eine Galerie ab 1949 in New York (19 East 57th Street), die seine Frau Juliana Maria noch nach seinem Tod bis 1964 fortführt. Er reist ab 1953 regelmäßig nach Deutschland und verstirbt 1958 in Frankfurt a. M. Die "Kleine Sinnende" verbleibt noch bis 1987 im Erbgang in Familienbesitz. [MvL]



150
Wilhelm Lehmbruck
Kleine Sinnende, 1910/11.
Gips, Reste einer ockerfarbenen Tönung, gelblic...
Schätzung:
€ 30.000
Ergebnis:
€ 70.000

(inkl. Käuferaufgeld)